Balance finden mit Poetry Slam
„Was heute hier passiert, ist nah am Menschen.“ Die Kinder- und Jugendtherapeutin Tatjana Ferrari bringt es auf den Punkt, was weitere rund 100 Besucher_innen der Jubiläumsveranstaltung der Erziehungs- und Familienberatungsstelle balance im Neusser Jugendzentrum DAS HAUS empfinden. Die zwölf Poetry-Slam-Vorträge, die Menschen im Alter zwischen 12 und 50 Jahren an einem Montagnachmittag im Dezember auf die Bühne bringen, spiegeln auf literarisch einfühlsame Art und Weise Leben pur. In den Beiträgen geht es um die Verarbeitung von alltäglichen Erlebnissen, um Sorgen und Nöte, um Angst und Kummer, aber auch um Glück und Optimismus, Lebenslust und Vertrauen sowie das Vermögen, aus eigener Kraft sein Schicksal in die Hand zu nehmen.
Moderator Jay Nightwind alias Jan Steglitz von der WestStadtStory Essen, den das balance-Team um die Leiterin Dorothea Brilmayer-Riesbeck engagiert hat, stimmt das Publikum ein auf die knisternden Gefühlswelten, mit denen sich die mutigen Poeten ohne doppeltes Netz und im freien Vortrag auf der HAUS-Bühne präsentieren. „Respect the Poets“, sagt Jay, der die acht Jugendlichen und vier Erwachsenen zwei Tage zuvor im Zuge eines Workshops in die Geheimnisse des Poetry Slam geführt hat. Das Ergebnis sind ein Dutzend überzeugende Performances, die das Publikum mit frenetischem Applaus honoriert.
Bestes Beispiel ist der Auftritt von Laura Halbig. Die Diplom-Pädagogin aus Neuss trägt den gemeinsamen Text einer Elterngruppe der balance vor. Dieser Poetry verarbeitet eigene Erlebnisse, Licht und Schatten des Elternseins und endet mit einem positiven Ausblick: Wir sind unperfekt, aber wir sind nicht alleine. Wir können uns austauschen. Und unsere Kinder inspirieren uns darin, den Moment zu genießen. Die 39-Jährige ist Mutter einer Siebenjährigen und strahlt, als sie nach ihrem Textvortrag beseelt von der Bühne tritt.
„Es ist tatsächlich mein erster Poetry-Slam, den ich besuche. Die Idee finde ich richtig gut“, sagt Kreisdechant Pfarrer Hans-Günther Korr (65). Der Vorsitzende des Caritasrates Rhein-Kreis Neuss nimmt in der hinteren Reihe Platz und genießt die Jubiläumsshow sichtlich. Gleiches gilt für Caritas-Vorstandsvorsitzender Hermann Josef Thiel, der in seiner Begrüßung das Jahr 1974 Revue passieren lässt, als sich die Erziehungs- und Familienberatungsstelle balance in Neuss etablierte. Damals sah die Welt noch anders aus, bemerkt Thiel, und erinnert an die Fußball-WM im eigenen Land, die Ikea-Gründung und die erste kommerzielle Computermesse COMDEX in den USA.
Wie dramatisch anders die heutige Welt aussieht und wie schwierig es ist, soziale Dienstleistung noch zu finanzieren, davon berichtete im Interview mit Moderator Jay Christof Kriege vom Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln. “Wir müssen uns vor allem Sorgen machen um die Kommunen“, sagte der Abteilungsleiter Jugend und Familie mit Blick auf immense Schulden der Städte und Gemeinden. Vor diesem Hintergrund sind Angebote, wie sie die Erziehungs- und Familienberatungsstelle balance seit nunmehr einem halben Jahrhundert in Neuss anbietet, alles andere als selbstverständlich.